Nach dem letzten, eher depressiven Beitrag, kommt hier jetzt der Krawall zurück. Es wird nämlich mal Zeit sich darüber zu unterhalten, warum das ganze soziale Gerechtigkeitsgelaber vielleicht doch nicht so gut ist, keinen Fortschritt bringt und am Ende nur den Konservativen in die Hand spielt. Wenn ich das aber tue, dann muss ich ja auch erzählen, wie es anders geht.
Hört doch mal auf zu quatschen.
Eine Weisheit der Soziologie ist, dass wenn über etwas geredet wird, es von den Kräften der Gesellschaft verarbeitet wird. Das ist dann das, was in Politik endet. Die landläufige Idee, wie Gesellschaftsänderung vonstatten geht, ist:
- Thema aufbringen
- Agenda Setting
- Politischer Diskurs
- Bessere Welt
- Rinse Repeat
Jetzt ist die Bevölkerung überaltert und das funktioniert nicht mehr, weil die Leute die Mehrheit im Diskurs haben, die gerne die Welt so hätten, wie es früher war. Dazu kommt, dass die einzelnen Teile der Gesellschaft eigentlich gar nicht mehr miteinander reden und wenn dann nur durch Vorwürfe und in schreiendem Ton. Gesellschaftliche Probleme werden als öffentlich nur noch als Spektakel behandelt und nicht mehr diskutiert, weil soundso jede Seite glaubt, dass sie recht hat und am Ende die alte konservative Mehrheit mit dem Stillstand gewinnt.
Die ganzen Versuche neue Ideen auf die Agenda zu setzen, in dem darüber geredet wird, sind also sehr kontraproduktiv. Zum einen reißen sie nur noch mehr Nebenschauplätze auf, zum anderen ist nur noch der Konflikt interessant nicht der Inhalt. Hinzu kommt, dass die konservative alte Mehrheitsgesellschaft das Thema dann in Ruhe versanden oder konservativ umdeuten kann. Das schafft wahlweise Perversionen des Fortschritts (Mindestlohn, Rentesystem) oder einfache Feindbilder („Feminazi“), die dann halt auch gerne wieder verschwinden. Gesellschaftlicher Fortschritt findet also nicht mehr statt.
Deswegen wäre es vielleicht mal gut, weniger zu quatschen, weniger anzuklagen, weniger zu schreien. Wenn dann sollte gefragt, erklärt und sich ausgetauscht werden.
Wer macht hat Recht!
Und das fragen, erklären und austauschen funktioniert viel besser, wenn die Leute einfach machen. Die normative Kraft des Faktischen gilt in postfaktischen Zeiten umso mehr. Wird eine Realität geschaffen, dann kann man sich darüber unterhalten und vor allem in dieser leben. Das bedeutet also, dass sich das Schaffen einer eigenen Realität gut dazu eigenen eine zu haben, in der man leben will. Das führt dann schon zum gesellschaftlichen Diskurs. Dieser wird aber nicht unter der Annahme geführt, dass alternative Lebensformen und Realitäten Spinnereien einer Minderheit sind, sondern mit den existierenden Phänomenen einer pluralen Gesellschaft. Will heiße, wenn eine Familie aus mehreren Elternteilen (2+) bestehen möchte, dann sollte sie das. Legal lässt sich das regeln. Wenn dann jemand fragt, wie das funktioniert, dann erzählt und erklären die Menschen das, die dieses Modell leben. Dabei müssen sie nicht die Person gegenüber überzeugen und auch keine große gesellschaftliche Debatte vom Zaun brechen. Die Gesellschaft ändert sich hier schon durch die neuen Lebensformen, die einfach gelebt werden.
Wer macht hat also erstmal Recht und muss nur erkennen, dass es keinen Grund gibt sich für das eigene Leben und die eigene Realitätsgestaltung rechtfertigen zu müssen, genauso wie es keinen Grund gibt, andere für deren Version anzugehen. Am Ende gelingt so ein Zusammenleben unheimlicher vieler verschiedener Menschen. Es muss zwar noch ein Rechtssystem, das die allgemeinen Regeln des Zusammenlebens durchsetzt, doch je mehr Dinge als alltäglich gelebt werden desto weniger können diese Regeln in alternative Lebensmodelle hineinpfuschen. Gelebter Pluralismus führt am ehesten dazu, dass sich sinnlose soziale Schranken auflösen.
Es ist also sinnvoller, zu versuchen ein Leben zu leben, dass einem selbst gefällt und erfüllt, als sich die ganze Zeit hinzustellen und anklagend zu versuchen die Welt von oben nach unten besser zu machen. Akzeptanz von alternativen Lebensvorstellungen führt zu gesellschaftlichem Fortschritt, nicht das heulende Einklagen diffuser Rechte, das immer in einem sinnlosen Vergleich der Privilegien endet. Anstatt Privilegien mit gesetzlicher Gewalt zu minimieren, hilft es mehr Menschen die Möglichkeit und Einstellung zu geben, dass sie sich Privilegien anderer nehmen können, wenn sie vergleichbares nur anders tun. Neid und Einklagen sind kontraproduktiv, sich selbst einen Platz zu schaffen nicht. Wenn das zum Standard unserer Sicht auf Pluralismus wird, dann wird es am Ende auch zu einer Politik führen, die Möglichkeitsräume öffnen muss, anstatt sich in Konflikten zu schließen.
Update: Die Vrouwelin hat sich in einem eigenen Artikel hierzu geäußert und eine wichtige Dimension hinzugefügt: Solidarität und Empathie. Ich möchte mich bedanken und ihr ausdrücklich zustimmen. Ich gehe implizit davon aus, dass Empathie und die daraus folgende Solidarität in jedem Menschen angelegt sind. Das ist vielleicht zu idealistisch gedacht, aber dann eine Aufgabe für unser Bildungssystem.
Update 2: Der Soziobloge hat sich mit einem zweiten Beitrag gemeldet, der vielleicht den wichtigsten Punkt aufmacht: mal entspannen im Diskurs. Ich schließe mich auch hier vollständig an und bedanke mich für den Beitrag.
„eigenen Realität gut dazu eignet“
„Will heißen,…“ Besser „Soll heißen,…“ oder „Will sagen,…“
Ich habe da noch ein paar Nachfragen Thomas.
„Will heiße, wenn eine Familie aus mehreren Elternteilen (2+) bestehen möchte, dann sollte sie das.“
Wenn aber gerade das nicht geduldet oder rechtlich nicht möglich ist?
Im besagten Beispiel trifft letzteres nicht zu. Aber was ist, wenn es zwei homosexuelle Menschen oder gar Elternteile sind?
Wie hätte man das lösen sollen, als das noch unter Strafe stand?
Wie kann ich Marihuana kaufen, besitzen und konsumieren, wenn das unter Strafe steht und ich so durch Mangel an Normativität keine Fakten schaffen kann? Das ist nur ein Beispiel für vieles andere. Du diskutierst ja auf der Metaebene.
„Die Gesellschaft ändert sich hier schon durch die neuen Lebensformen, die einfach gelebt werden.“
Hmmm, man taxt die homosexuellen in unserer Gesellschaft je nach Schätzung auf 3%-7%.
Davon geht weit weniger eine dauerhafte Beziehung ein als bei heterosexuellen Paaren. (Ursachen sind verschiedener Natur.)
Wie sollen diese dann also alleine die Normativität ändern, wenn nicht auch weiße, heterosexuelle Cis-Personen mitbrüllen?
Vorleben können sie es ja nicht.
„genauso wie es keinen Grund gibt, andere für deren Version anzugehen.“
Ich wüsste nicht, dass Familien mit heterosexuellen Eltern, bei dem der Vater arbeiten geht und die Mutter zu hause bleibt und die Kinder erzieht je kritisiert wurden seinen.
Dennoch wird die Diskussion so geführt als ob.
„doch je mehr Dinge als alltäglich gelebt werden desto weniger können diese Regeln in alternative Lebensmodelle hineinpfuschen.“
Ist es nicht so, dass genau das gerade passiert und sich ein Großteil unserer Gesellschaft dagegen wehr und für einen Backlash kämpft?
Gruß
Fabian
Das stand meines Wissens nie unter Strafe. Adoptionen sind nicht möglich und die Verwaltungen werden grün, wenn man mit sowas kommt. Aber da muss sich halt die Verwaltung irgendwann einfach anpassen. Stattfinden tut es ja soundso.
Stimmt. Und meines Wissens ist es gerade in Berlin relativ einfach Marihuana zu kaufen, zu besitzen und zu konsumieren. Der Hauptpunkt der Legalisierungskampagne ist ja auch, dass man damit Polizei und Gerichte entlasten könnte, während wir nicht sicherstellen können, dass das Marihuana a) nicht mit irgendwas gestreckt ist und b) Menschen, die mit dem Konsum in Probleme geraten, geholfen werden kann. Drogen gehören entkriminalisiert, weil Drogensucht ein gesellschaftliches Problem ist, dass nicht weggeht, wenn man die Drogen verbietet.
Das ist ja genau der Punkt. Die weißen Cis-Personen „brüllen mit“, wenn sie erleben, dass Menschen, die in homosexuellen Beziehungen leben, schlicht in nix anderes tun als Menschen, die anderen Beziehungen leben. Die Idee setzt dabei an, dass alternative Lebensformen gezeigt werden und dadurch alltäglich werden. Je mehr Leute diese als alltäglich wahrnehmen, desto weniger Gegenwehr gibt es dagegen. Das „Fremde“ wird normal. Ich habe das als Mensch mit DDR Hintergrund (und damit einem weißen Arbeitermilieu) mittlerweile so oft erlebt, dass ich es nicht mehr zählen kann. Lebenskonzepte, die selbst für mein ostdeutsches 18jähriges Ich maximal denkbar waren sind mir begegnet und ich habe immer nur festgestellt: „joa, und? Sind halt auch nur nette Leute.“ Diese Erfahrung ist profund dafür, dass ich mich für Pluralismus einsetze. Sie hat nix mit akademischer Bildung zu tun und funktioniert halt nur, wenn Leute versuchen ihr Leben für sich zu leben.
Von wem? Mir?
Ich kann dir allerdings eine Gruppe von Menschen verraten, die dieses Familienmodell scharf kritisiert: Ostdeutsche Mütter mittleren Alters. Deren Realitätsvorstellung war immer, dass eine gute Mutter arbeitet und den Haushalt schmeißt. Da gibt es das Ressentiment, dass die westdeutsche Hausfrau unemanzipiert und faul ist.
Jein. Ein Großteil unserer Gesellschaft ist alt und je älter Menschen werden, desto konservativer werden sie. Aber alte Menschen sind auf junge Menschen angewiesen und mit ihnen familiär verbunden. Das bedeutet, dass sie sich immer wieder den Herausforderungen alternativer Lebensformen stellen müssen, weil junge Menschen sie leben. Dabei können diese Menschen Lebensformen als normal kennen lernen, die sie vorher nicht kannten. Wenn in dem Argument etwas fehlt, dann dass man den großen Generationengraben besser überwinden sollte. Aber allein die Herausforderungen, die passieren, wenn man mit Menschen im Alltag offen kommuniziert ist, reichen.
Ich weiß nicht, wie oft mir das schon passiert ist… ein älteres Ehepaar, dass mich in der Therme auf meine Tattoos anspricht, eine alte Dame, die mich auf meine lustigen Paganklamotten anspricht, alltägliche Unterhaltungen mit den verschiedensten Leuten auf der Straße über alles Mögliche, bei denen immer wieder klar wird: die Leute sind offen, ehrlich und menschlich, wenn du vor ihnen stehst. Der ganze Backlash kommt von diffusen Ängsten, diffusen Ansprüchen und zu viel indirekter Kommunikation. Ich habe eine Flüchtlingsklasse unterrichtet, das einzige was ich daraus gelernt habe ist: sind auch nur Schüler. Diese Erfahrung ist die Basis von gesellschaftlicher Veränderung.