Literaturdidaktik braucht kein Big Data

Mir kam vorhin dieser Artikel unter die Nase und ich möchte mich da mal ein bisschen zu äußern. Er ist insofern ein gutes Beispiel, weil er mehrere Dinge zeigt, die ich immer wieder im Bereich der Didaktiken beobachte. Zum einen wird hier einem Trend sinnlos hintergerannt, der dann strukturelle Probleme als Allheilmittel der Didaktik lösen soll. Zum anderen beruhen die Ideen, wie immer auf nichtüberprüften Prämissen, die über die Welt, das Thema und die Schülerschaft gesetzt werden. Also, eigentlich alles wie immer, aber das hält mich jetzt nicht davon ab, das einmal abzuhandeln. ich hab ja Ferien und so. ((Um euren Hass auszudrücken, klickt einfach auf den grünen Knopf oben im Artikel…))

Distant Reading ist kein Reading

Okay. Es geht in dem Artikel um „distant reading“, das allein schon für seinen Namen einen Preis verdient. Es ist nämlich gar nicht mehr „reading“. ((Vor allem: der Text beschäftigt sich mit dem Deutschunterricht und nicht mit Englisch.)) Also, „close reading“ heißt anscheinend das, was man ansonsten so im Deutschunterricht macht. Das ist diese sinnlose Zerlegen von literarischen Texten unter der Lupe des angeblich Wissenden. Es ignoriert den Text als kulturelles Artefakt genauso, wie den Rezipienten und nimmt damit eigentlich nur die Interpretation ernst. Die kommt dann in der Schule meist noch gefühlt von oben und damit ist das alles eher unglücklich. „Distant reading“ macht das anders. Es ignoriert sogar die Interpretation des Textes und schmeißt sich an der Hals der Big Data. Damit wird ist das Name dann auch falsch. Es ist gar nicht mehr lesen sondern computergestütztes Wörterzählen. Das hat durchaus seinen Sinn. Die Computerlinguistik, Korpuslinguistik und ähnliche Disziplinen tun sowas schon lange und haben ihre Berechtigung, da sprachliche Strukturen sich in Verfahren mit großen Datenmengen zeigen können. Doch hier geht es jetzt um dieselben Verfahren als Methode der literarischen Analyse. „Distant reading“ ist also gar kein „reading“ mehr, sondern wir schmeißen einen Text in einen Computer, lassen diesen Wörter zählen und mache Wortwolken und ähnliches. Daraus soll dann eine literarische Analyse folgen und das nachdem die Literatur weggelassen wurde.

Die Idee geht auf einen amerikanischen Literaturwissenschaftler Franco Moretti zurück, der mit Big Data herausfinden will, welche Gefühle mit verschiedenen Londoner Stadtteilen in Verbindung gebracht werden ((Pro-Tip: das kann man nach der Vorlesung zur sozialen Mobilität aus dem Wikipediaartikel ableiten… Wahlweise: einfach nur Dickens lesen.)) oder ein Netzwerk der Figuren in Hamlet. ((Das ist übrigens eine Aufgabe, die Schüler in der Schule regelmäßig aufbekommen.)) Die Frage, die sich hier für mich anschliesst und die nicht beantwortet wird ist: „Und dann?“ Ähnlich wie mit dem Boom der Neurowissenschaften, wird hier auf Teufel komm raus Big Data gemacht ohne sich die Frage zu stellen, was denn dabei rauskommen soll. Ist das mit sprachlichen Strukturen in Texten sinnvoll, stellt sich für die Literaturanalyse die Frage, wie etwas, das eigentlich hermetisch ist, durch das Anhäufen von Daten besser gehen soll.

Literatur ist wie ein Glas Wein

Der Literaturwissenschaft wird zurecht vorgeworfen, dass sie von Alchemie nicht zu unterscheiden ist. Alles ist Text, alles ist hermetisch, alles ist möglich, solange es argumentiert werden kann. Der Text trägt die Möglichkeiten aller Blickwinkel in sich. Das scheint beliebig und genau darin liegt die Stärke der Literaturwissenschaft. Ähnlich wie bei der Philosophie geht es hier um die Frage des Menschlichen, im Text, in der Rezeption wie auch im Leser. Die Leitfragen sollten sein: was sagt uns dieser Text über die Welt aus der er stammt, die Welt hinter den Augen des Autors und die Welt hinter unseren Augen. Das sind alles Fragen, die nur uneindeutig beantwortbar sind und genau das ist das Spannende. Das lässt sich vielleicht am besten mit dem Streit der Alchemisten mit den Chemikern vergleichen, der in folgendem einfachen Gleichnis zusammengeführt werden kann:

Wir können ein Glas Wein aufteilen und in seine Bestandteile zerlegen, doch wenn man diese wieder zusammenfügt, dann ist das nicht derselbe Wein. 

Ich will nicht in den Streit einsteigen, aber die Idee dahinter ist, dass es jenseits aller rationaler Analyse auch etwas gibt, dass eben nicht durch Naturwissenschaft erklärbar ist. Das ist eben genau das, was in unserem Kopf abgeht und was Menschen besonders macht: die Welten hinter den Augen. das ist der Fehler, den „distant reading“ macht. Es versucht mit Daten an ein Phänomen heranzugehen, das sich eben nicht mit Daten erfassen lässt. Die Häufigkeit eines Wortes in einem Text lässt eben keine Rückschlüsse darauf zu, was der Text mit einem macht und nur weil ich weiß, welche Gefühle Autoren mit Londoner Stadtteilen verbunden haben, erschließt sich mir eben keine weitere Bedeutung. Der naturalistische Fehlschluss, dass nur Messbares die Welt bestimmen soll, der Fehlschluss auf dem das Silicon Valley zu Fußen scheint, ist hier sehr gut sichtbar. Literaturanalyse ist eben mehr als Wörter zählen. ((Sprachwissenschaft übrigens auch!))

Literaturdidaktik braucht vieles, aber kein Big Data

Eine grundlegende Erkenntnis des Literaturunterrichts ist, dass sich die Schülerinnen und Schüler wenig mit Literatur auseinandersetzen möchten. Wer kann es ihnen verübeln? Für den digital Native ist toter Baum total unsexy. Verschwurbelte und lange (mehr als 1000 Zeichen!) Texte sind ungewohnt und die Sprache vergangener Zeiten unverständlich. Das sind alles Hürden, die tatsächlich überwunden werden müssen. Die Schülerinnen und Schüler per Computer Wörter zählen lassen und dann Hypothesen bilden hat mit Literatur aber nichts zu tun. Wie auch die Interpretationshechelei des restlichen Literaturunterrichts. Beide vergessen, dass Literatur etwas in unserem Kopf anstellt, etwas mit uns tut. Jede sprachliche Botschaft hat mehrere Ebenen, die im Sendenden und Rezipierenden angelegt sind. Diese sollten der Mittelpunkt von Literaturunterricht sein, genauso wie die Beschäftigung mit der Frage als geschichtliche Artefakte, denen nicht vertraut werden kann. Und jetzt nochmal zum mitklöppeln: Das sind alles Dinge für die man ein menschliches Gehirn braucht, und keine riesigen Datenmengen. Diese können bei den Fragen, die Literatur an uns stellt und an die Welt nicht helfen. Diese Fragen sind aber die Legitimation von Literaturunterricht.

Wenn moderne Medien benutzt werden um sich mit Literatur zu beschäftigen, dann sollte man doch vielleicht mal mit Big Data aufhören und produktiv werden: schreiben, vertonen und aufnehmen sind doch viel besser um sich mit den Welten hinter unseren Augen auseinanderzusetzen als zu versuchen alles über das Wenden von Datenhaufen zu gestalten. Literatur kann Wunder zeigen, die man mit Daten niemals sehen kann.

2 Gedanken zu „Literaturdidaktik braucht kein Big Data

  1. blub

    Nicht das ich Ahnung von Didaktik oder schlimmer:Didaktik in der Literatur hätte, aber mir kommt es vor alsob es zwei verschiedene Strömungen gibt:
    A) Die einen wollen Fähigkeiten zur Textanalyse vermitteln die den Schüler ermächtigen auch mal 1 Schritt tiefer in den Text einzusteigen als das was genau in den Buchstaben steht.
    B) Die anderen wollen auf jeden Fall als historisch wertvoll erachtete Texte lesen und sie an die nächste Generation weiter geben.

    Wem B wichtig ist, der macht dann auch irgenen einen neumodischen kram einfach nur damit die Schüler hinterher den richtigen Text gelesen haben. Und wie wir wissen finden 55jährige Pädagogen alles toll was man mit dem Computer machen kann, weil sie denken das dann der Unterricht bei jugendlichen besser ankommt. (*Hüstel*)
    Wem Primär A wichtig ist, der kann die Übungen auch an Harry Potter machen. (z.B. Vergleich im Stil der Bände 1/3/5/7.)
    Und weil es Interessenvertreter beider Seiten gibt kommt am Ende raus das man das langweiligste aus beiden Welten vereint und der Literaturunterricht aussieht wie bei der Feuerzangenbowle.
    Und das ohne jeglichen Effekt, außer bei denen die sowas gerne machen, denn es zieht sich eh jeder die Zusammenfassung der zu Tode interpretierten Texte aus dem Internet.

    In Mathe beutzt ja auch keiner mehr Napierstäbchen oder Rechenschieber obwohl das mal state of the Art war. In Mathe gewöhnt man sich langsam dran das jeder jederzeit die 12te Wurzel aus jeder Zahl ziehen kann, in Literatur sieht für mich von außen so aus als hätte man da den Schuss noch nicht gehört und man ärgert sich nur über den Sittenverfall und die bösen, bösen Handys.

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    1. advi Beitragsautor

      Ich bin weder Typ A noch B. Denn beides ist wichtig und doch nur gemeinsam sinnvoll. Literatur kann halt vieles sein und diese Vielfalt ist es dann irgendwie. Ich habe letztes Jahr zu hören bekommen, dass die Schülerinnen und Schüler, mit denen ich ein Buch gelesen habe, sich noch mehr erhofft haben an Analyse und so. Das ist doch toll. Was ich nicht will ist, gemeinsam das Buch durchlesen, komische Fragen stellen und dann irgendwie kleben bleiben. Aber das ist im Englischunterricht noch mal schwieriger, weil man da an der Sprache schon Leute verliert.

      In Deutsch würde ich sagen: hoch zielen. Meine Erfahrung ist, dass die Schülerinnen und Schüler gern gefordert werden wollen. Helfen kannst du ja immer noch. Wenn du es einfach und dumm machst, dann wirst du nie rauskriegen, wo es zu schwer geworden ist.

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