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Textwelten – Der klassische Nachrichtenartikel

Fangen wir bei der klassischen Schule an. Jeder kennt ihn, jeder hat ihn mal gelesen. Der Berichterstattungsartikel in der Zeitung. Hier wird ist wichtig, dass der Stil und die Wortwahl so tun, als wäre das alles objektiv geschrieben, als würde der Journalist neutral sein und das Gefühl vermittelt, dass in der Nachricht alles wichtige enthalten ist. Dafür bedient sich der Autor eines distanzierten Stils, der Referenzen auf ihn vermeidet und arbeitet meist über definierende Adjektive, wenn er doch Meinung unterbringen will. Wichtig ist beim ganzen Stil den Leser bitte vergessen machen, dass das jemand geschrieben hat. Das sind halt „nur die Fakten“.

Doch besser geht das mit einem Beispiel:

(tb) Am Morgen des 12.Juli 2016 wurden in der Kleingartenanlage „Zur fröhlichen Wassertonne“ in Bamberg Süd, mehrere Pokémon aus ihrem Gehege entwendet. Wie der Besitzer der Pokémon am nächsten Morgen der Polizei erklärte, handelt es sich um Pokémon des Typs Bisasam, Bisaflor, Schiggy und Evoli in einem Gesamtwert von über 2.500€. Der Besitzer erlitt aufgrund des Verlustes einen Nervenzusammenbruch und musste in der örtlichen Nervenklinik behandelt werden. Die Polizei bittet um sachdienliche Hinweise zur Aufklärung des Verbrechens.

So. Das kann man jetzt mal einfach abdrucken und schauen, wie vielen Zeitungslesern überhaupt auffällt, dass das Quatsch ist. ((Man kann das auch mal Jan Hofer vorlesen lassen. Da fällt es vielleicht erst auf, wenn im Hintergrund ein weinendes Schiggy abgebildet ist.)) Wichtig ist hier vor allem, dass der Duktus passt. Bloß keine Schnörkel, keine Adjektive, bitte trockene Vokabeln und schon läuft das. Wenn man die Pokémon gegen Fahrräder oder Kaninchen tauscht, kriegt man den Lokalteil auch locker mit sowas gefüllt.

Interessant ist hierbei, dass dieser Artikel überhaupt nicht den Anschein erweckt, als wäre er von einer Person geschrieben, was er natürlich ist. Die Frage, warum dieser Inhalt, wie in der Zeitung landet wird super webabstrahiert, in dem Persönlichkeit aus dem Artikel entfernt wird. Wie wird aber ausgewählt und sind das wirklich alle Fakten, oder war für weitere Details vielleicht kein Platz? Alles Fragen, die allein schon stilistisch nicht naheliegen. Wenn etwas so geschrieben wird, dann ist es richtig und wahr, auch wenn das am Ende gar kein Evoli sondern ein Vulpix war. Wichtig ist auch, dass dieser Text eben nicht emotional ansprechen soll und deswegen so wirksam ist. Wir verbinden mit Rationalität automatisch das bessere Argument und Seriösität. Dabei kann man wirklich alles rational und seriös formulieren, was ich noch an weiteren Beispielen zeigen werde.

Textwelten – Wie man so klingt, wie man klingen soll.

Eine grundlegende Erkenntnis der Literatur- und Sprachbeschäftigung ist, dass alles Text sein kann. Allerdings haben Texte soziale Funktionen, die von verschiedenen Merkmalen abhängen: Vokabular, Ansprechhaltung und Komplexität des Satzbaus sind nur ein paar der Stellschrauben an denen mal so drehen kann, damit ein passender Text herauskommt.

Das bedeutet auch, dass jegliche Art von Text einfach gefaked werden kann, wenn man weiß, nach welchen Regeln diese Art von Text geschrieben werden und damit auch, was Leser von einem Text erwarten. Das ist insbesondere kritisch, wenn es sich um wissenschaftliche oder journalistische Texte handelt, da diesen beiden Kategorien eine soziale und politische Relevanz zugeordnet wird, die Auswirkung auf die Realität hat. Dabei könnte jeder wissenschaftliche und journalistische Text auch reine Fiktion sein.

Im neuen Projekt „Textwelten“ werde ich versuchen möglichst viele Arten von Texten zu erklären, in dem ich einfach Beispiele fiktionalen Inhalts schreibe und an denen erkläre, was die Art des Textes ausmacht. Diese Übung ist hauptsächlich dafür gedacht, sich in bester Jonathan Swift Tradition über die meisten Leute, die Texte produzieren und glauben, dass diese einen Anspruch auf Wahrhaftigkeit oder Glaubwürdigkeit haben, lustig zu machen. Diese Kategorien werden allesamt sozial mit der Art des Textes generiert und sind damit ein wunderbares Beispiel darüber, wie soziale Konstruktionen Realität erschaffen, ohne dass es dafür eine Sachbasis geben muss. Wer also glaubt, dass das was er oder sie wahrnimmt und dann in Sprache wiedergibt irgendwie Realität abbildet, irrt sich: es generiert Realität. Das bedeutet dann auch, dass hier genauso der Suspence of Disbelief ausgeschaltet werden muss und das passiert über die Konventionen, die hier gezeigt werden sollen. 

Brexit – Wenn WarGames auf politische Realität trifft

Was wir jetzt mit Brexit sehen, ist die Fragmentierung der Gesellschaft entlang ihrer Weltkonstruktionen und deren kommunikative Grenzen. In einer granularen Welt, in der man keinen Überblick mehr darüber hat, wer für wen, wie und warum Informationen generiert, werden politische Entscheidungen nicht mehr auf Basis der realer Informationen sondern von Geschichten getroffen.

Ich habe schon früher erklärt, dass Menschen viel einfacher von Geschichten gelenkt werden, die ihren Vorstellungen entsprechen, als sich mit Fakten zu beschäftigen. Die Realität wird zu einem Computerspiel, das reale Konsquenzen hat. Das Thema kam in den 80ern im Film WarGames vor und beim Brexit können wir das jetzt als nicht-fiktionales Phänomen beobachten:

  • Sämtliche Politiker, die das zu verantworten haben, erklären jetzt, dass sie gelogen haben und tun so, als wäre das alles klar gewesen. Dabei werden heutzutage Informationen, die auf Facebook geteilt werden, als erstaunlich vertrauenswürdig gesehen. Die Illusion der persönlichen Bindung an die Politiker, verleitet die Menschen dazu die Geschichten zu glauben.
  • Die Bevölkerung realisiert, dass sie der Souverän ist, zu ihrem Nachteil entschieden hat, und dass alle diese Entscheidung ernst nehmen. Das entspricht nicht den Geschichten, die sich alle über die Rolle der Bevölkerung in einer Demokratie erzählen. Es ist sogar das Gegenteil.
  • Die gesamten Kampagnen, außer wahrscheinlich die der SNP, waren Schaudergeschichten: von der bösen EU, dem wirtschaftlichen Schaden und so weiter. Information wurde nicht positiv dargestellt und nicht relevant gemacht.
  • Die realen Konsequenzen ihres Handeln wars den Menschen nicht bewusst. Sie konnten intuitiv nicht mehr zwischen fiktionalen und realitätsbezogenen Botschaften unterscheiden. Insbesondere, weil die fiktionalen Texte genauso daher kommen, wie die realitätsbezogenen und sämtliche journalistische Rituale, die Glaubwürdigkeit herstellen sollen, als das Schauspiel erkannt wurden, das es ist.

Alle spielen also mit Computern Kommunikation nach und basieren auf diesen Erfahrungen dann reale Entscheidungen. Unser Umgang mit sozialen Medien hat jetzt also dazu geführt, dass WarGames real geworden ist. Unheimlich viele Leute haben das, was sie vor Bildschirmen gesehen haben, nicht ernst genommen, weil es ist ja nur Gerede. Und jetzt wundern sie sich, dass der thermonukleare Krieg tatsächlich ausgebrochen ist…

Über Geschichten, Wahrheit und kaputte Gemeinschaft

Wisst ihr noch, wie das so in alten Romanen auftaucht? So die Dorfgemeinschaft, die sich eine Meinung über einen gebildet hat und jedes Argument aus deren Warte sieht, aber nie mit der Person offen redet? Wo alles ein Beweis dafür ist, dass die Geschichten, die erzählt werden, wahr sind? Das ist jetzt für die komplette Welt normal. Jeder kann eine Geschichte erzählen und ihre Wahrheit spielt keine Rolle, solange die Geschichte gut ist.

Die AfD erzählt Geschichten vom alten guten Deutschland, die Medien erzählen Geschichten von der eigenen Wichtigkeit, die Radikalfeministinnen vom bösen dauervergewaltigenden Mann, die Veganer vom bösen weltzerstörenden Fleischfresser und alle erzählen diese Geschichten hauptsächlich sich selbst.

Jake Applebaum is anscheinend ein Arschloch und vielleicht ist er ein Vergewaltiger und Nötiger. Schön, dann möge man ihn bitte anzeigen. Wenn die Menschen, die betroffen sind das Gefühl haben, dies nicht zu können, dann hat die Gesellschaft, in der sie leben, versagt und muss sich darum kümmern, dass dies nicht mehr passiert.

Was definitiv nicht hilft, weder den Betroffenen noch der Gesellschaft, ist, sich hinzustellen und allen Geschichten zu glauben und eine Welt zu befürworten, wo die beste Geschichte gewinnt und nicht die Fakten. Das ist übrigens dieselbe Welt in der Menschen glauben müssen, dass wenn sie fundierte Anschuldigungen gegen jemanden haben, sie nicht zur Polizei gehen können. Das ist nämlich auch eine Geschichte, die zu gerne geglaubt und erzählt wird.

Wir können uns kein globales Gemeinwesen leisten, in dem jegliche Wahrheit von der Performance der Geschichtenerzähler und unserer Vorliebe für bestimmte Geschichten abhängt. Dann sind wir nämlich in einer totalitären Willkürdystopie angekommen, in der Demagogen immer Recht haben.

 

Zement für die bröckelnde Wirklichkeit

Im Nachgang dieses Artikels kam in einer Unterhaltung auf, warum es eigentlich so viele Menschen in den sozialen Netzen gibt, die weder sich selbst noch die Welt reflektieren können und ob man das nicht in der Schule lernen sollte.

Die Kurzantworten dazu wären: nein und ja

Lang ist es natürlich, wie immer, komplex. Den Mangel an Selbstreflexion an Bildung fest zu machen ist sicherlich logisch und auch erstmal richtig. Darum geht es gleich. Doch vorher sei der Hinweis gestattet, dass es unheimlich schwer ist, seinen Blick immer oder auch nur manchmal über den Tellerrand der eigenen Erfahrung zu heben. Wir konstruieren uns unsere Welt aufgrund der eigenen Erfahrungen und diese konstruierte Wirklichkeit, ist wirklicher als das, was wir als real existierend wissen. Deswegen kann es durchaus sein, dass Menschen in sozialen Medien, die eigentlich auch nur Echokammern für die eigene Befindlichkeit und Weltkonstruktion sind, noch weniger an ihrem abstrakten Wissen über das, was wahr ist, interessiert. Für sie ist ihre Weltkonstruktion wahrer. Also kann man da nicht unbedingt davon reden, dass die alle ungebildet sind.

Doch nun zur Frage, ob man in der Schule lernen sollte, wie man die Welt kritisch hinterfragt. Das ist generell erstmal Bildungsaufgabe. Steht auch so in allen möglichen Verfassungen und Gesetzen. Doch, da hört es dann auch auf. Denn die Anforderungen an das Schulsystems und seine Struktur sind für eine Umgebung, in der man sich kritisch mit der Welt auseinandersetzt nun eher so kontraproduktiv. Das Schulsystem wurde geschaffen um Beamte und Angestellte auszubilden. Die grundlegenden Prinzipien sind nicht die der Wissenschaft, also kritisches Hinterfragen, sondern welche, die darauf beruhen objektives Wissen effektiv zu vermitteln. Dafür ist aber kritisches Hinterfragen natürlich Gift, weil sich das einfacher gestalten lässt, wenn die Menschen, die das Wissen, das an sich ja wissenschaftliche generiert wurde, empfangen dies möglichst widerstandsfrei und originalgetreu machen. Das wird im dreigliederigen Schulsystem in unterschiedlicher Stärke getan. Ja grundlegender die Schulart und je niedriger die Klasse, desto mehr wird Wissen einfach erklärt und davon ausgegangen, dass es aufgenommen wird. Das Warum kommt später und ist „zu kompliziert“. Was in der Zwischenzeit passiert ist aber, dass Schulen den Kindern und Jugendlichen eine Verhaltensweise anerziehen, die eben kritikfeindlich ist. Ironischerweise wird erwartet, dass ab einem Alter von ca. 13-15 die Schülerinnen und Schüler anfangen über Fragen und Inhalte nachzudenken und zu reflektieren. Genau das, was man ihnen vorher aberzogen hat. Die Schwelle für das Bestehen von Abituren durch reines Lernen ist aber nicht hoch genug, dass man überhaupt denken lernen muss. Sogar an Universitäten wird stumpfes Repetieren mehr unterstützt als Denken.

Und so kommt es, dass kritisches Denken maximal an der Universität vermittelt wird, aber auch dort nicht mehr nötig ist, um einen Abschluss zu bekommen. Schulen können das ihrer Struktur nach gar nicht leisten und widerstehen auch schon seit langem jedem Versuch diese Struktur zu verändern. 

Ich und Du und die Distinktion

Ich war die Tage bei einem Konzert der Brass Band Bamberg. Es war sehr gut und hat mir großen Spaß bereitet. Allerdings war ich eher zufällig dort, weil Isa als Fotografin da war und mich mitgenommen hat. Während des Konzertes sprachen wir über die verschiedene Musik und was sie für uns bedeutet und was nicht. Und dabei fiel mir wieder auf, dass es verschiedene Arten gibt über sowas wie klassische Musik und Konzerte zu denken und dass das davon abhängt, welche Ziele und Ideen man mit Musik verbindet.

Distinktion und Habitus

Doch vorher, eine kurze dreckige Wiederholung von Sachen, die ich schon öfter erzählt habe. Der Soziologe und Ethnologe Pierre Bourdieu sagt in seinem Buch Die feinen Unterschiede, dass sich soziale Schichten nicht nur durch unterschiedliche Mengen an Kapital, sondern auch durch ihren Habitus unterscheiden. Der Habitus ist dabei als eine bestimmte Art die Welt zu sehen und sich in ihr zu verhalten. Je nachdem, in welchen sozialen Schichten eine Person sozialisiert wurde, erwirbt sie bestimmte Habitus, die dann aber auch beschränken, in welche Schichten diese Person sich holperfrei eingliedern kann. Bourdieu sagt, dass die Unterschiede im Verhalten einer Person den Zugang zu anderen sozialen Statusgruppen verwehrt, solange diese Person nicht weiß, wie sie sich zu verhalten hat. Damit werden bestimmte Verhaltensweisen zu Distinktionsmerkmalen, mit denen sich Menschen von anderen in ihrem sozialen Status unterscheiden lassen. Das wichtige ist hierbei, dass diese Merkmale sozial generiert, verteilt und erlernt werden. Der soziale Unterschied wird also weitergegeben und kultiviert. Man kommt nur in den sozialen Kreis, wenn man das geheime Verhalten und Wort kennt.

E und U und so weiter

Und das ist auch bei Musik so. Die große Unterteilung, die den meisten Menschen wahrscheinlich bekannt ist, ist die zwischen E- und U- Musik. E steht dabei für „ernsthaft“ und U für „Unterhaltung“. E-Musik ist damit definiert als etwas mit dem man sich auseinandersetzen muss, U-Musik ist etwas für alle und hat keinen Anspruch oder anders ausgedrückt, man muss angeblich dabei nicht nachdenken. Damit ist dann Math Metal definitiv E-Musik. E-Musik ist also Musik, die ähnlich der modernen Kunst Deutung braucht und den Menschen nicht nur emotional, sondern auch kognitiv herausfordert. Je moderner die Musik, desto schlimmer wird das. Bei der „alten“ klassischen Musik gibt es durchaus Unterhaltungsstücke, die aber so fremdartig für die modernen Hörgewohnheiten sind, dass die Dekodierung immer noch ein kognitiver Prozess wird. Man kann sich diese Musik auch einfach so anhören, aber die reine Unterscheidung in schön und nicht-schön ist dann halt auch sehr einfältig.

Distinktionmerkmale

Denn in Wirklichkeit gibt es hier natürlich sozialen Grenzen, die durch die Art des Musikgenusses gekennzeichnet sind. Und da gibt es im Endeffekt drei Arten von Leuten: diejenigen, die selbst Musik machen und deswegen eine persönliche Verbindung zu einem Musikstück haben, dann diejenigen, die keine Musik machen, aber sich für sie interessieren, sie verstehen und genießen, und dann gibt es die dritte Gruppe: diejenigen, die Musik konsumieren, weil dieser Konsum zu ihrem angestrebten Habitus gehört. Die dritte Gruppe gibt es, weil es traditionell zum Habitus des Bildungsbürgertums und der Oberschicht gehört, dass man Kunst und Musik schätzt. Schon in den feinen Unterschieden macht Bourdieu an der Kunst fest, wo der Unterschied zwischen den verschiedenen sozialen Statusgruppen ist. Er sagt allerdings auch, dass das Geheimnis des Habitus der gehobenen Statusgruppen ist, das eben das erhöhte Verständnis von Musik und Kunst ein Zeichen des Status ist, nicht die Teilnahme an entsprechenden Veranstaltungen. Man muss also auf eine bestimmte Art über Kunst und Musik reden können, wenn man Teil der Gruppe sein will, nicht zwingend Konzerte besuchen. Deswegen achten Menschen in den gehobenen Statusgruppen dann die Musiker, denn dort verbinden sich der Habitus beider Gruppen, obwohl Musiker ja eigentlich sozial niedriger stehen.

Zusammengefasst kann also gesagt werden: es gibt Leute, die E-Musik hören, weil ihnen diese etwas gibt und es gibt Leute, die E-Musik hören, weil sie glauben, dass das Erscheinen bei entsprechenden Konzerten zum sozialen Status gehört, den sie haben möchten: dem des intellektuellen Schöngeists und der bürgerlichen Oberschicht. Jenseits von Überlappungen, die es da natürlich geben kann, bedeutet das allerdings auch, dass die Leute, die sich vom Besuch des Sinfoniekonzerts einen Vorteil für den sozialen Status versprechen, eigentlich keinen Zugang zu dem haben, was die entsprechenden Statusgruppen schon per Erziehung mitbekommen und Musiker und Musikliebhaber durch ihr Hobby erhalten: nämlich die Fähigkeit E-Musik zu deuten, ein Orchester zu lesen und damit den eigenen Horizont durch die kognitive Interaktion mit der Musik zu erweitern. Dafür entlarven sich diese Menschen dann als diejenigen, die nur aus sozialer Erwünschbarkeit oder Geltungsverlangen kulturelle Veranstaltungen aufsuchen. Das ist so etwas wie das soziale Shibboleth. Um das zu beschreiben kann ich anekdotisch noch folgende Aussage eines Dauerkarteninhabers der lokalen Sinfoniker anführen:

Ja, der Sparkassenvorstand ist die „Schüttelfraktion“. Die sind nur da, um sich gegenseitig die Hände zu schütteln. Aber ich bin froh, dass die da sind. Sie bezahlen ja die Sinfoniker und ich genieße die Musik.

Das Distinktionsmerkmal im Bereich Musik ist, wie in nahezu jedem sozialen Bereich also das Wissen um die Deutung des Phänomens und je vielfältiger und breiter dieses Wissen ist, desto anerkannter ist man. Das gilt für alle sozialen Statusgruppen und meist dreht sich die Betonung, was man wie sehr deuten können muss, von den oberen Statusgruppen zu den niedrigen um: muss man für den hohen Status einen Monet erkennen können, muss man im niedrigen Bereich die Konnotationen und Grenzen des rassistischen Witzes kennen.

Interesant ist dabei dann folgendes: egal welche soziale Statusgruppe, egal welcher Habitus, alle erkennen Menschen, die aufgrund mangelnden Wissens nicht dazu gehören, sofort. Deswegen wird die „Schüttelfraktion“ genauso belächelt wie der Uniprofessor auf der Baustelle und deswegen ist sozialer Aufstieg, wenn man ihn sich ersehnt, nur darüber machbar, dass man neue Deutungsebenen erkennen kann, also die Fähigkeit besitzt, die Wilhelm von Humboldt Bildung nannte.

A Conversation with a Caterpillar

Heute ging auf twitter das Alice in Wonderland Fandom rum und mir fiel dann ein, dass ich doch mal diesen Text über die Unterhaltung zwischen der Raupe und Alice schreiben wollte.

Wir fangen mal mit dem Text an und bewegen uns dann von ihm weg.

The Caterpillar and Alice looked at each other for some time in silence: at last the Caterpillar took the hookah out of its mouth, and addressed her in a languid, sleepy voice.
‚Who are YOU?‘ said the Caterpillar.
This was not an encouraging opening for a conversation. Alice replied, rather shyly, ‚I—I hardly know, sir, just at present—at least I know who I WAS when I got up this morning, but I think I must have been changed several times since then.‘
‚What do you mean by that?‘ said the Caterpillar sternly. ‚Explain yourself!‘
‚I can’t explain MYSELF, I’m afraid, sir‘ said Alice, ‚because I’m not myself, you see.‘
‚I don’t see,‘ said the Caterpillar.
‚I’m afraid I can’t put it more clearly,‘ Alice replied very politely, ‚for I can’t understand it myself to begin with; and being so many different sizes in a day is very confusing.‘
‚It isn’t,‘ said the Caterpillar.
‚Well, perhaps you haven’t found it so yet,‘ said Alice; ‚but when you have to turn into a chrysalis—you will some day, you know—and then after that into a butterfly, I should think you’ll feel it a little queer, won’t you?‘
‚Not a bit,‘ said the Caterpillar.
‚Well, perhaps your feelings may be different,‘ said Alice; ‚all I know is, it would feel very queer to ME.‘
‚You!‘ said the Caterpillar contemptuously. ‚Who are YOU?‘

Alice in Wonderland by Lewis Carroll

So, wir bewegen uns da jetzt ein bißchen rum und machen Ebenen auf, und wieder zu.

Falsche Annahmen und Kommunikationszusammenbrüche

Die Kommunikation zwischen Alice und der Raupe ist irgendwie gestört und irgendwie auch nicht. Carroll hat sehr viel Spaß damit Sachen wörtlich zu nehmen, die metaphorisch gemeint sind um aufzuzeigen wie bekloppt die sozialen Konventionen in Sprache sein können. Alice ist durchgehend verwirrt vom Wunderland und hat mehrfach ihre relative Größe geändert, etwas, das Menschen normalerweise nicht tun. Raupen wiederum tun es den ganzen Tag zur Fortbewegung und so nimmt das Unheil seinen Lauf. Alice antwortet auf die erste Frage komplett selbstreferenziell und ab da geht’s bergab, weil die Raupe nicht anderes tut. Alices ungeduldiges „you see.“ funktioniert dann auch nicht, weil Raupen nicht sehen können und der letzte Versuch ihre Erfahrung über das Beispiel der natürlichen Entwicklung, die man so als Raupe durchmacht, ist dann auch zum Scheitern verurteilt. Während Alice sich nur auf ihre eigene Verwirrung und Erfahrung konzentriert, die sie über ihre eigene körperliche Identität zweifeln lässt, macht die Raupe dasselbe, allerdings bestätigen sie Alices Ausführung in der Normalität ihrer eigenen Erfahrung. Damit bricht die Kommunikation hier komplett zusammen.

Kindeserfahrungen und Albträume

Alice in Wonderland ist ein Kinderbuch und damit kann man auch darauf abstellen, dass Kindeserfahrungen im Mittelpunkt stehen. Für Alice scheinen Größen- und damit auch Perspektivänderungen sehr verwirrend zu sein. Das Wunderland wirkt manchmal nahezu albtraumhaft in seiner Enttäuschung aller Erwartungen an die Welt, die man gerade erst entwickelt hat. Doch sind diese Veränderungen nicht auch die Erfahrung von Kindern? Größenänderung, eine Welt, die ihre Erwartungen an einen immer wieder ändert und in ihrer Komplexität erhöht, und eine dauerhafte Zunahme von sozialen Konstrukten, deren Realität nur auf der gegenseitigen Versicherung ihrer Existenz beruhen, sind hochgradig verwirrend für Kinder und die Welt der Erwachsenen vermittelt ihnen gerne mal, dass das alles nur an ihnen liegt, dabei sehen sie die Welt noch nicht durch die ganzen sozialen Filter, die wir im Laufe des Lebens erwerben und mit denen wir uns und allen anderen die Realität unserer Welterfahrung versichern.

Identität

Das bringt uns dann zum philosophischen Teil: die Frage nach der eigenen Identität, die Alice hier gestellt wird. „Who are you?“ fragt die Raupe und Alice antwortet aus einer reinen Körperlichkeit heraus, die sie an der Beantwortung der Frage scheitern lässt. Doch, wer sind wir eigentlich, wenn wir unsere physischen Dimensionen weglassen. Wer sind wir, wenn wir unsere Namen, diese von Fremden gegebenen Lautzuordnungen, weglassen? Was kann Alice also überhaupt antworten, worüber sie sich sicher sein kann? Die Raupe stellt also die Frage nach der eigenen Identität, die verloren geht, wenn wir uns der Welt nicht mehr sicher sein können. Die Antwort auf die Frage ist dann auch die Herausforderung vor der nicht nur Alice steht, wenn sie gefragt wird:

Who are you?

Wofür kämpfst du? Und wie?

Zu einem meiner Lieblingswerken aus den Dresden Files von Jim Butcher gehört die Kurzgeschichte „The Warrior“ aus der Sammlung Side Jobs. In dieser Geschichte geht es vordergründig um jemanden, der Harry Dresdens Freund Michael von einem selbsternannten Krieger des Guten bedroht wird. Doch die Action ist gar nicht so sehr die Sache der Geschichte. Für mich ist es das finale Gespräch zwischen Harry Dresden und dem Erzengel Uriel:

‚Courtney‘, Jake said. ‚The little girl who almost got hit by a car.‘

‚What about her?‘ I asked.

‚You saved her life,‘ he said. ‚Moreover, you noted the bruise on her cheek – one she acquired from her abusive father. Your presence heightened her mother’s response to the realization that her daughter was being abused. She moved out the next morning.‘ He spread his hands. ‚In that moment, you saved a child’s life, prevented her mother from alcohol addiction in response to the loss, and shattered a generational cycle of abuse more than three hundred years old.‘

‚I … um.‘

‚Chuck the electrician,‘ Jake continued. ‚He was drunk because he’d been fighting with his wife. Two months from now, their four-year-old daughter is going to be diagnosed with cancer and require a marrow transplant. Her father is the only viable donor. You saved his life with what you did – and his daughter’s life, too. And the struggle that family is going to face together is going to leave them stronger and happier than they’ve ever been.‘

I grunted. ‚That smells an awful lot like predestination to me. What if those people choose something different?‘

‚It’s a complex issue,‘ Jake admitted. ‚But think of the course of the future as, oh, flowing water. If you know the lay of the land, you can make a good guess where it’s going. Now, someone can always come along and dig a ditch and change that flow of water – but honestly, you’d be shocked how seldom people truly choose to exercise their will withing their lives.‘

I grunted. ‚What about second baseperson Kelly? I saved her life, too?‘

‚No. But you made a young woman feel better in a moment where she felt as though she didn’t have anyone she could talk to. Just a few kind words. But it’s going to make her think about the difference those words made. She’s got a good chance of winding up as a counselor to her fellow man. The five minutes of kindness you showed her is going to help thousands of others.‘ He spread his hands. ‚And that only takes into account the past day. Despair and pain were averted, loss and tragedy thwarted. Do you think you haven’t struck a blow for the light, Warrior?‘

‚Um…‘

‚And last but not least, let’s not forget Michael,‘ he said. ‚He’s a good man, but where his childrean are involved, he can be completely irrational. He was a hairbreadth from losing control when he stood over Douglas on the beach. Your words, your presence, your will helped him to choose mercy over vengeance.‘

I just stared at him for a moment. ‚But … I didn’t actually mean to do any of that.‘

He smiled. ‚But you chose the actions that led to it. No one forced you to do it. And to those people, what you did saved them from danger as real as any creature of the night.‘ He turned to look down at the church below and pursed his lops. ‚People have far more power than they realize, if they would only choose to use it. Michael might not be cutting demons with a sword anymore, Harry. but don’t think for a second that he isn’t fighting the good fight. It’s just harder for you to see the results from down here.‘

I swigged more Scotch, thinking about that.

‚He’s happier now,‘ I said. ‚His family, too.‘

‚Funny how making good choices leads to that.‘

Aus: Butcher, Jim. ‘The Warrior’ in Side Jobs. 2010.

Der wahre Kampf zwischen Gut und Böse findet also regelmäßig durch kleine Taten des Mitgefühls, des Mitleids und der Menschlichkeit statt. Sei es, dass man den Menschen an der Kasse des Supermarkts als Menschen anerkennt, seine Nachbarn grüßt und mit ihnen redet oder einfach nur einer alten Dame mal über die Strasse hilft. Einfache Akte der Menschlichkeit machen also einen Unterschied und zwar mehr als man das denkt. Es sind nämlich diese Akte der Menschlichkeit, die sich multiplizieren. Und wie kalt und furchtbar die Entmenschlichung anderer Personen durch Selbstzentriertheit sein kann beschreibt Brené Brown sehr gut:

[…]On the way home, I stopped at Barnes&Noble to pick up a magazine. The woman ahead of me in line bought two books, applied for a new „reader card,“ and asked to get one book gift-wrapped without getting off her cell phone. She plowed though the entire exchange without making eye contact or directly speaking to the young woman working at the counter. She never acknowledged the presence of the human being across from her.

After leaving Barnes&Noble, I went to a drive-through fast food restaurant to get a Diet Dr. Pepper. Right as I pulled up to the window, my cell phone rang. I wasn’t quite sure, but I thought it might be Charlie’s school calling, so I answered it. It wasn’t the school – it was someone calling to confirm an appointment. I got off the phone as quickly as I could.

In the short time it took me to say, „Yes, I’ll be at my appointment,“ the woman in the window and I had finished our soda-for-money transaction. I apologized to the second I got off of the phone. I said, „I’m so sorry. The phone rang right when I was pulling up and I thought it was my son’s school.“

I must have surprised her because she got huge tears in her eyes and said, „Thank you. Thank you so much. You have no idea how humiliating it is sometimes. They don’t even see us.“

Aus: Brown, Brené. Daring Greatly. 2014

So wie wir Menschen im Alltag durch Missbilligung schädigen und durch einfache Gesten wieder zu anderen menschlichen Wesen machen, so ist jeder kleine Akt von Menschlichkeit ein Gegengift zu den psychischen Schäden, die eine immer anonymer werdende Gesellschaft an uns allen anrichtet. 

Das kann man auch in der Schule sehen. Die Schülerinnen und Schüler als Menschen wahr- und ernstzunehmen fällt als Lehrperson nicht immer leicht, weil man immer denkt, dass da je eine Gruppe vor einem sitzt. Es ist aber keine Gruppe, es sind Individuen in einem Raum und jede Interaktion mit einem davon ist eine öffentliche zwischen einem selbst und dem Individuum gegenüber. Es gibt nicht „die Klasse“, es gibt nur die Menschen, die da drin sitzen. Bricht man dann eben diese Gruppensicht auf, dann kann man auch pädagogisch was erreichen. Das Ernstnehmen von Menschen als Menschen ist der Beginn davon etwas für diese Welt zu tun.

Doch es gibt neben dem grundsätzlichen Gedanken etwas dafür zu tun, dass die Welt ein besserer Ort wird, noch eine weitere Dimension, die philosophisch immer dazu gehört: die Frage nach der Art und Weise, in der man mit anderen Menschen interagiert und daran angeknüpft die Frage des Zwecks. Beides hängt zusammen. Der Zweck diktiert nämlich die Art und Weise, wie man interagiert. Eine positive Interaktion kann eigentlich nur erfolgen, wenn der Zweck an sich auf die Person bezieht und nicht auf sekundäre Motive. Wenn das Ziel einer Interaktion nicht die Bereicherung des Lebens aller Personen ist, die daran beteiligt sind, dann wird da auch nix besser.

Und so muss man sich auch immer die Frage stellen, welcher Modus der richtige ist und ob das eigene gut gemeinte Handeln auch eine gute Wirkung entfaltet. In der Folge One Day, One Room von House. M.D. sieht sich der Hauptcharakter einer jungen Frau gegenüber, die vergewaltigt wurde und nun beruhend auf ihrem Glauben das Baby behalten möchte. Durch ein – für House uncharakteristisches – persönliches Öffnen bekommt er sie dazu ihre Geschichte zu teilen und das Kind abzutreiben. Ganz am Ende der Folge findet dann folgender Dialog statt:

Cuddy: She’s gonna be OK.

House: Yeah, it’s that simple.

Cuddy: She’s talking about what happened. That’s huge. You did good.

House: Everyone will tell you: That’s what we gotta make her do. We gotta help her, right? Except we can’t. Instead, we drag out her story and tell each other that’ll help her heal. We feel real good about ourselves. Maybe all we’ve done is make a girl cry.

Wilson: Then why did you…?

House: Because, I don’t know.

Wilson: You gonna follow up with her?

House: One day, one room.

House M.D. Season 3/12 One Day, One Room

Die zentrale Frage ist also auch immer, wie wir etwas tun und für wen es ultimativ getan wird. Wird es getan, damit wir uns gut fühlen? Wird es vielleicht nur getan, um aus der Geschichte einen Gewinn zu schlagen, egal ob monetär oder moralisch? Oder damit danach darüber erzählt werden kann, wie gut man selbst ist?

Hier kommt eine Unterscheidung ins Spiel, die immer wieder sehr wichtig ist. Gut und böse sind keine inherent moralischen Kategorien, die moralischen Kategorien sind richtig und falsch. Eine gute Handlung ist nicht unbedingt richtig. Ganz im Gegenteil gut war sehr oft schon die Begründung dafür Dinge zu tun, die schlicht falsch sind. Und am Ende ist die Frage, ob man sich am Ende des Tages im Spiegel ansehen kann, wichtiger als der Ruhm, den man dafür bekommt die Geschichte eines Menschen ans Tageslicht gezerrt zu haben, oder darauf hingewiesen zu haben, wie gut man selbst ist.

Also, die Welt ist dunkel und wir sollten alle unsere Lichter entzünden, damit sie etwas heller wird. Doch wenn es nur darum geht, dass wir im Licht besser zu sehen sind, dann zeigen wir niemandem den Weg und bleiben ewig stehen.

Nicht so’n Geiles Leben

Es läuft im Radio hoch und runter, und meist verstehen die Leute nur „geiles Leben“. Klingt alles hübsch poppig und toll. Doch Glasperlespiels Geiles Leben (Youtubevideo mit Lyrics)hat einen eher spannenden Text, dessen Inhalt mich genug juckt um ihn hier mal auseinanderzulegen.

Also, schauen wir uns das mal an:

[Strophe I:]
Führst ein Leben ohne Sorgen
24 Stunden, 7 Tage nichts gefunden
Was du heute kannst besorgen
Das schiebst du ganz entspannt auf morgen
Ich hab‘ ’ne Weile gebraucht, um zu verstehen
Dass die Zeit reif ist, um jetzt zu gehen
Ich wünsch‘ dir noch ’n richtig geiles Leben
Denn wie du dich veränderst will ich mir nicht geben

Okay. Der Text spricht aus der ersten Person, mit der man sich traditionell am besten identifiziert, mit einer anderen Person, der er anscheinend sehr vertraut ist. Die andere Person ist irgendwie doof, weil die „ein Leben ohne Sorgen führt“, in der sie sich etwas gehen lässt und entspannt herumprokrastiniert. Und das ist anscheinend genug Grund diese Person aus dem eigenen Leben zu entfernen, weil sich der Ich-Erzähler „nicht geben will, wie sie sich verändert“. Also wir halten fest: Die andere Person verschreibt sich einer entspannten, vielleicht sogar hedonistischen Lebensführung und verändert sich dadurch und beides ist schlecht.

[Refrain:]
Ich wünsch‘ dir noch ’n geiles Leben
Mit knallharten Champagnerfeten
Mit Fame, viel Geld, dicken Villen und Sonnenbrillen
Ich seh‘ doch ganz genau, dass du eigentlich was Anderes willst!

Ich wünsch‘ dir noch ’n geiles Leben
Ab jetzt wird es mir besser gehen
Vergiss den Fame, all die Villen und die Sonnenbrillen
Ich fühl jetzt ganz genau
Dass ich das zu meinem Glück nicht brauch

So, den Refrain frühstücken wir jetzt hier einmal ab. Er ist das Herzstück eines jeden Liedes, also auch diesem. Also, der Ich-Erzähler erklärt hier seinem Adressaten, dass „Fame, dicke Villen und Sonnenbrillen“ „doch ganz genau, dass ist, was dieser nicht will“. Ich finde ja Gedankenlesen und Hellsehen immer gut. Vor allem in der Popmusik. Woher wissen die nur immer alle, wie das Leben von anderen Leuten aussieht. Und, dass man die Sachen, die man tut nicht will. Oder vielleicht ist das doch perfider, vielleicht ist diese Aussage eher eine Aussage, dass man nicht so sein soll. Damit wird das alles allerdings zu einem schäbig moralisierenden Stück, das einem sagt, dass man doch bitte keinen Spaß haben soll und es soundso zu nix bringt, außer vielleicht durch harte Arbeit. Dazu ist Hedonismus kein Glück, wahres Glück gibt also nur, wenn man, öhm, keinen Spaß hat. Oder zumindest wenig Spaß, weil wir wissen ja: im echten Leben hat man keinen Spaß!

[Strophe II:]
Du führst ein Leben ohne Limit
56 Wochen, alle Gläser sind zerbrochen
Zwischen denen du nichts findest
Merkst du nicht, dass auch du langsam verschwindest?
Ich hab‘ ’ne Weile gebraucht, um zu verstehen
Es geht nicht darum, was Andere in dir sehen
Ich wünsch‘ dir noch ’n richtig geiles Leben
Denn wie du dich veränderst, will ich nicht erleben

Also okay, wir haben verstanden Hedonismus=schlecht. Diesmal weil er anscheinend Beziehungen kaputt macht. Moment… Sind Beziehungen nicht so Sachen, die auf Gegenseitigkeiten beruhen und bedeutet, diese Strophe nicht eher, dass die eine Beziehung, nämlich die zwischen Ich-Erzähler und Adressaten, sich ändert und war das nicht laut Strophe eins primär Schuld des Ich-Erzählers, der jetzt nicht damit zurecht kommt, dass ich sein Adressat ändert. Nunja, Solidarität gibt es hier nicht und soundso weiß auch in dieser Strophe der Ich-Erzähler, dass Hedonismus ja die Persönlichkeit zerstört. Er kann nicht Teil einer Persönlichkeit sein, oder schlicht ein legitimer Lebensstil.

Alternative Interpretation: Boah ist da jemand neidisch, dass jemand anders Spaß hat.

[Refrain: siehe oben]

[Bridge:]

Das wird die Zeit meines Lebens
Und niemand ist mehr dagegen
Das hab ich für mich erkannt
Und deine Bilder hab ich endlich verbrannt

Okay. Refrain hatten wir jetzt, die Bridge zeigt noch mal, dass der Ich-Erzähler hier irgendwie ein Problem hat. Wobei sich die Frage stellt, wer eigentlich etwas gegen die Lebensführung des Ich-Erzählers hat. Oder, hm… hat sich der Adressat gar nicht geändert, sondern der Ich-Erzähler? Immerhin hat er etwas für sich erkannt und dann die andere Person aus seinem Leben geschmissen.

Hm. Vielleicht hilft hier etwas Hintergrundwissen: Die Wikipedia erklärt uns nämlich, dass Glasperlenspiel aus einer kirchlichen Band entstanden sind. Und nunja, wenn man jetzt mal eine christliche Ideologie annimmt, dann macht das alles auf einmal noch mehr Sinn. Die sagt nämlich, besonders in der calvinistischen Ausprägung, dass Spass haben gar nicht geht und einen total entmenschlicht. Kann also sein, dass es hier konservativ-christliche Werte propagiert werden.

Danach kommt noch zweimal der Refrain, um die Message auch schön nach Hause zu tragen. Wobei die poppige Musik sehr schön versteckt, dass hier jungen Menschen eigentlich gesagt wird: Spaß haben ist doof, du willst das auch nicht, weil es immer jenseits dessen etwas wichtigeres gibt, was immer das auch ist. Das Lied ist also irgendwie eine Mischung aus modernem Koservativismus und protestantischer Ethik, die hier total harmlos daher kommt und mit dem Schlagwort „geiles Leben“ der jugendlichen Hörerschaft hübsch untergeschoben wird.

Und jetzt weiß ich genau, warum ich das Lied eklig finde.

Das Pfeifen im Walde

Hey, wart ihr schonmal im Dunkeln allein im Wald unterwegs? Schauriger Ort, oder? Die Dunkelheit sorgt dafür, dass man sich alles mögliche im Gestrüpp einbilden kann. Da hilft es nur sich selbst Mut zu machen. Also pfeift man verzweifelt ein fröhliches Liedchen, damit man den Wolf im Dunkeln verjagt oder besser glaubt, dass er sich dadurch verjagen lässt. Deswegen pfeift man, wenn man allein im dunklen Wald ist.

Ist man zu zweit erzählt man sich gegenseitig, wie wenig Angst man zu haben braucht. Aber das ersetzt auch nur das Pfeifen. Der Wald ist immer noch dunkel und der Wolf ist immer noch da draußen.

Wir leben in Zeiten, die immer dunkler werden. Die Menschheit wußte noch nie so sehr bescheid über die Welt wie heute. Wir waren noch nie so informiert, aber das führt nur dazu, dass wir noch mehr Angst vor dem Dunkeln haben und immer besser wissen, wie der Wolf aussieht: Klimawandel, Neoliberalismus, sozialer Abstieg, Krieg oder extremistische Vollpfosten mit Sprengstoffgürteln.
Deswegen wird immer lauter gepfiffen. Sei es das Schreien der Flachnasen auf irgendwelchen Demos, die Durchhaltereden der Regierung oder aber das monotone Mantra des Politikfernsehens, das uns einlullt, das alles ist nur das Pfeifen im Walde, während der Wolf näher kommt. Wenn man sich ansieht, wie hier alle immer nur ironisch sind, während sie sich mit Hedonismus betäuben, sich über die Dummheit der anderen aufregen ohne selbst etwas dagegen zu tun, oder betroffen eine sinnlos Geschichte nach der anderen aufschreiben, weil sie selbst nur noch etwas spüren, wenn sie betroffen sind, dann weiß man, wie laut das Pfeifen ist. Und man merkt, dass keiner eine Lösung zu haben scheint, geschweige denn über eine nachdenken will. Schließlich sind sie alle zu sehr mit Pfeifen beschäftigt. Das Dunkel scheint immer manifester zu werden und der Wolf ist schon nahe, also muss man lauter pfeifen, oder?

Oder?

Oder wie wäre es, wenn man mal die Strategie wechselt? Der Wolf hat Angst vorm Licht, also zünden wir in der Dunkelheit ein Licht an. Dann kann man zum einen den Weg viel besser sehen, und zum anderen finden einen vielleicht auch andere verlorene Menschen. Die müssen dann auch nicht mehr durch die Dunkelheit irren und gemeinsam sind dann alle eine schwerere Beute für den Wolf.
Aber wo kommt jetzt dieses Licht her? Darauf gibt es viele Antworten, aber die schönste kommt für mich von Aristoteles. Dieser sagte, dass jeder von uns ein „telos“ hat, ein Ziel, und wenn wir dieses erfüllen, dann tun wir das beste für uns und die Welt. Unser telos ist das nach dem wir streben und in uns angelegt, hat aber auch etwas mit unseren Talenten zu tun. Man sollte das tun, was einem zukommt und nicht versuchen etwas anderes zu tun, denn dann erfüllt man nicht sein Ziel in der Welt. Wenn wir alle das tun, was wir gut können, dann machen wir die Welt besser. Das geschieht durch alles mögliche: gute Kunst, schöne Fotos, tolle Musik, schöne Podcasts, inspirierender Unterricht, tolle Gute-Nacht Geschichten, gut gebaute moderne Autos, geile Astrophysik, leckeres gutes Brot.
Alles das ist besser als im Wald zu pfeifen. Wenn man durch das, was man tut ein Licht anzündet, anstatt sich selbst einzureden, dass da draußen im Dunkeln der Wolf verschwindet, weil man möglichst viel Lärm macht, dann wird der ganze Wald weniger bedrohlich.